Kasachstan nach den Parlamentswahlen: Perspektiven der staatlichen Reformpolitik für zivilgesellschaftliche Akteure

Observatorium 53 | 29.07.2021| Über die Parlamentswahlen und den Dialog zwischen Zivilgesellschaft und Staat in Kasachstan.

Am 10. Januar 2021 fanden im neuntgrößten Flächenstaat der Erde und größten Land Zentralasiens reguläre Parlamentswahlen statt. In den 17 Jahren zuvor wurden die planmäßigen Wahltermine immer wieder aufgrund unterschiedlicher Faktoren verschoben. Am 17. Oktober 2020 hatte Kasachstans Präsident Kassym-Jomart Tokayev die Durchführung dieser Wahlen trotz der fortwährenden globalen Corona-Krise angekündigt. Dieser Schritt ist insofern bemerkenswert, als im selben Jahr ein umfassendes Reformpaket im Hinblick auf die Rechte der Bürger bei zivilen Versammlungen und Demonstrationen, die Registrierung politischer Parteien und Betätigung in diesen sowie die Rechte des Parlaments implementiert wurde.[1]

Die mit der Pandemiebekämpfung einhergehenden Restriktionen und Aussetzungen grundlegender Rechte stellen zivilgesellschaftliche Akteure weltweit derzeit vor massive Herausforderungen. Wenngleich gegenwärtig ein weitgehender politischer Konsens jenseits von Länder-, Partei- und Weltanschauungsgrenzen über die Notwendigkeit dieses Vorgehens besteht, so ist es umso bemerkenswerter, wenn gerade in einer solchen Phase weitgehende Reformen im Hinblick auf die Handlungsoptionen von zivilgesellschaftlichen Initiativen in einem Land beschlossen werden. Es ist daher nicht nur in Anbetracht der Rolle Kasachstans als wichtigstem Partner für Deutschland und die EU in Zentralasien, sondern auch im Kontext der aktuellen globalen Entwicklung eine bedeutsame Frage, wie die Implementierung der in Gesetzesform erlassenen Liberalisierungen praktisch voranschreiten kann.

Die Parlamentswahlen

Bei den Wahlen am 10. Januar wurden die 98 Abgeordneten der gesetzgebenden Versammlung, der Majilis, neu gewählt. Die Regierungspartei Nur Otan hält mit 71,09 % der Stimmen zwar weiterhin eine verfassungsgebende Mehrheit, verlor aber im Vergleich zu 2016 über 11 % der Stimmenanteile. Davon profitierten die weiteren im Parlament vertretenen Parteien – die nationalliberale Ak Shol (10,95 %; plus 3,77 %) und die kommunistische Volkspartei Kasachstans (9,1 %; plus 1,96 %). Weitere kandidierende Parteien waren die Oppositionsparteien Auyl und Adal, die jedoch an der Siebenprozenthürde scheiterten.

Die Wahlbeteiligung lag mit 63,3 % bei einem Wert, der aus mehreren Gründen als beachtlich eingeordnet werden kann. Zum einen, da sich dieser Wert gemessen an der Beteiligung bei anderen Parlamentswahlen in den Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten durchaus im oberen Bereich bewegt. Zum anderen, da die Wahlen trotz einer globalen Hochphase der Corona-Pandemie regulär stattfanden. Da Kasachstan bisher ein stark ausgeprägtes Präsidialsystem ist, müssen die potentiellen Effekte der politischen Reformen seit dem Amtsantritt von Präsident Tokayev, auf welche noch zurückzukommen sein wird, zumindest berücksichtigt werden. Hierbei ist davon auszugehen, dass gesenkte Hürden für zivilgesellschaftliche Partizipation und die Erweiterung der parlamentarischen Kompetenzen eine Wahlbeteiligung der Bürger tendenziell begünstigen. Diese Fragestellung wäre im Rahmen weitergehender empirischer Untersuchungen interessant, um Effekte und Auswirkungen der Reformen in Bezug auf die politische Beteiligung zu quantifizieren.

Der Pandemiesituation geschuldet fand der Wahlkampf nur in eingeschränktem Maße statt, größere Versammlungen waren die Ausnahme und zahlreiche Informationsangebote verlagerten sich in den digitalen Bereich. Wenngleich oppositionelle Gruppierungen vereinzelte staatliche Repressionen kritisieren, so existieren keine Belege dafür, dass man auf seriöser Grundlage von einer systemimmanenten Repression sprechen könnte. Behördenwillkür und individuelles Fehlverhalten von Beamten in Bezug auf zivilgesellschaftliche Aktivitäten müssen nichtsdestotrotz, auch im Sinne der proklamierten Regierungspolitik, konsequent geahndet werden und die Bürger bleiben gut damit beraten, ihre Rechte gegenüber dem Staat aktiv einzufordern und wahrzunehmen. Dass dies nur ein wechselseitiger Prozess sein kann, der basierend auf den drei Jahrzehnten einer sich noch entwickelnden, souveränen kasachischen Erfahrung von demokratischen Instrumentarien und Verfahrensweisen zahlreiche Optimierungspotentiale beinhaltet, ergibt sich aus den historischen Erfahrungen und soziologischen Gegebenheiten des Landes.

Vonseiten der Wahlbeobachtermission der OSZE sowie der oftmals lediglich aus der Ferne berichtenden deutschen und westeuropäischen Medien wurden zahlreiche Unregelmäßigkeiten kritisiert und der Protest von Teilen der außerparlamentarischen Opposition damit legitimiert.[2] Es scheint dabei jedoch obsolet zu erwähnen, dass in der noch jungen Republik im 30. Jahr der staatlichen Unabhängigkeit noch viele Prozesse und Abläufe gefestigt werden müssen, bestehen. Richtet man den Blick auf die Gesamtentwicklung, so stellt sich die Lage anders dar. Die unmittelbaren Vorgänge an den Wahltagen reihen sich ein in eine Vielzahl von politischen, wie gesellschaftlichen Reformen, die es näher zu betrachten gilt, bevor ein realistisches Urteil über den Zustand der Demokratie und zivilgesellschaftlicher Partizipation an politischen Prozessen in Kasachstan gefällt werden kann.

Das parlamentarische System Kasachstans besteht aus einem Zweikammersystem. Das Oberhaus, der Senat, besteht aus insgesamt 49 Mitgliedern, die aus den Vertretungen der Gebiete und drei größten Städten jeweils für sechs Jahre entsandt werden. 15 Senatoren werden für die gleiche Dauer vom Präsidenten berufen. Das Unterhaus, die Majilis, besteht aus 107 Abgeordneten, von denen 98 in landesweiter Abstimmung und neun von der Vollversammlung des Volkes Kasachstans für eine fünfjährige Legislaturperiode gewählt werden. Durch das im Mai 2020 beschlossene Gesetz „Über die Rolle des Parlaments und den Status der Abgeordneten“ finden die parlamentarische Opposition und deren Rechte erstmals verfassungsrechtliche Erwähnung. Beide Kammern üben die Kontrolle über den Staatshaushalt, den Rechenschaftsbericht der Regierung und außenpolitische Grundsatzentscheidungen aus. In den ausschließlichen Kompetenzbereich der Majilis fällt das Recht zum Vorschlag sowie der Beratung von Gesetzesinitiativen, zur Abstimmung über den Vorschlag des Präsidenten für das Amt des Premierministers sowie die Terminierung der Präsidentschaftswahlen. Die Majilis entsendet je zwei Abgeordnete als Vertreter in den Verfassungsrat und die Zentrale Wahlkommission sowie drei in den nationalen Rechnungshof. Die Regierung ist der Majilis gegenüber rechenschaftspflichtig, ebenso kann der Regierung oder einzelnen ihrer Mitglieder das Misstrauen ausgesprochen werden. Infolge der Verfassungsänderungen vom Mai 2007 wurde die sogenannte Gesellschaftliche Kammer beim Parlament gebildet. Diese erfüllt die Funktion, einen kontinuierlichen Dialog mit Vertretern der Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen zu führen, die wiederum als Sachverständige zu Anhörungen und Ausschusssitzungen der Majilis berufen werden können.[3]

Kasachstan setzt auf Reformen und Dialog mit der Zivilgesellschaft

Demokratische Prozesse beschränken sich nicht auf den Urnengang. Vielmehr ist der Zusammenhang zwischen dem Vorfeld und der auf Wahl- und Abstimmungsprozesse folgenden Veränderungen ausschlaggebend für eine Gesamteinordnung der Handlungsperspektiven für zivilgesellschaftliche Akteure und das Verhältnis zwischen dem Staat und den Bürgern.

Im Rahmen der engen Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen setzt sich die Regierung Kasachstans für jährliche nationale Überprüfungen der Menschenrechtssituation im Land durch internationale Experten ein. In diesen Überprüfungen wird unter anderem darauf hingewiesen, dass Kasachstan neue Pläne zur Umsetzung der Empfehlungen verschiedener UN-Übereinkommen verabschiedet hat, einschließlich des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung von Frauen, der UN-Rassendiskriminierungskonvention, der UN-Antifolterkonvention, der UN-Kinder-rechtskonvention, des internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie des Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.[4] Der innergesellschaftliche Ausgleich zwischen verschiedenen Regionen, Kulturen und Ethnien nimmt dabei einen besonders wichtigen Stellenwert ein.[5]

Die politischen Reformen verfolgen das langfristige Ziel, die Potentiale bürgerschaftlicher Beteiligung an der Gestaltung des Staatswesens als Ressource zu dessen Stabilisierung zu nutzen. Damit einhergehend verändert sich auch der Ansatz des politischen Denkens in Bezug auf die Zivilgesellschaft: Diese wird nunmehr verstärkt als eine gestaltende und legitime Interessen gegenüber dem Staat artikulierende Kraft wahrgenommen, der entsprechende Möglichkeiten geboten werden müssen. So sind beispielsweise staatliche Stellen auskunftspflichtig, wenn friedliche Versammlungen nicht genehmigt werden oder bei der Registrierung von Nichtregierungsorganisationen.[6]

Am 15. Januar 2021 hielt Präsident Tokayev eine Rede vor dem kasachischen Unterhaus, in der er eine Reihe neuer Initiativen im Rahmen des dritten Pakets politischer Modernisierung und demokratischer Reformen verkündet hat.[7] Hervorzuheben ist insgesamt, dass die Reformen zur Stärkung der Kompetenzen und Befugnisse des Parlaments mit einer Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten und einer Reduzierung der Hürden für zivilgesellschaftliche Akteure unterschiedlichster Form einhergehen. Der Transformationsprozess der kasachischen gesellschaftlichen Strukturen wird seine Zeit benötigen, aber die bereits gegenwärtig zu konstatierenden neuen Dynamiken ermutigen dazu, diese Gesamtentwicklung konstruktiv und kritisch zu begleiten.

Ein Aufbruch mit Potentialen

Die Reformen seit dem Amtsantritt von Präsident Tokayev im politischen Bereich haben ein deutliches Signal an die westlichen Partner Kasachstans gesendet. Die ambitionierte Politik der Umgestaltung der Gesellschaft hinzu mehr zivilgesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten und einer pluralen politischen Kultur wird auch im 30. Jahr der staatlichen Unabhängigkeit fortgesetzt. Inwiefern die Reformen eine tatsächliche Gestaltungskraft entfalten, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abschließend beurteilt werden. Ein realistischer Blick darf die Augen dabei nicht vor der Tatsache verschließen, dass die effektive Wirksamkeit der verbrieften Rechte zweifellos einige Zeit in Anspruch nehmen wird, bis sich die Handlungs- und Reaktionsweise von staatlichen Akteuren im Umgang mit zivilgesellschaftlichen Kräften auf der neuen Basis habitualisiert haben wird.

Die Folgen der Corona-Bekämpfung werden diesen Prozess sicherlich verlangsamen, was aber nicht nur auf Kasachstan, sondern auf die meisten Staaten weltweit zutrifft. Auf dieser Grundlage empfiehlt sich für die deutsche und europäische Zentralasienpolitik, die Reformen als Versuch einer langfristigen gesellschaftlichen Transformation ernst zu nehmen und konstruktiv-kritisch zu begleiten. Die EU bleibt neben Russland, China und den USA eine strategische Priorität der multivektoralen Außenpolitik Kasachstans und nimmt in ihrer Gesamtheit den Platz des wichtigsten Handels- und Investitionspartners ein.[8] Die Entwicklung und Ausgestaltung von Programmen der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit auf bilateraler oder multilateraler Ebene, wie sie im Rahmen der Östlichen Partnerschaft der EU mit den beteiligten Ländern seit mehreren Jahren praktiziert werden, könnte auch für die Staaten Zentralasiens einen wichtigen Impuls schaffen, um diese Prozesse politisch und finanziell zu unterstützen.

[1] Vgl. dazu Unkauf, Urs: Kasachstans Zivilgesellschaft im Aufbruch? Ein Rückblick auf das erste Jahr der Präsidentschaft von Kassym-Jomart Tokayev. Maecenata Observatorium Nr. 44, Juli 2020. URL: München, 11 (maecenata.eu). Diese sowie alle nachfolgenden Onlinequellen wurden zuletzt am 12.07.2021 überprüft.

[2] Vgl. Kussainov, Daniyar: Analyse: Parlamentswahlen in Kasachstan. In: Zentralasien-Analysen Nr. 145, 29.01.2021, S. 13-16, hier S. 15. Zu diesem Befund gibt es kritische Einschätzungen von Wahlbeobachtern aus der Europäischen Union. Exemplarisch hierfür stehen die Stellungnahmen der französischen Abgeordneten Jérôme Lambert (Assemblée nationale) und Thierry Mariani (Europäisches Parlament): Élections législatives au Kazakhstan : les observateurs européens unanimes – Affaires internationales. Vgl. hierzu auch die Beobachtungen des Autors am Wahltag in Nur-Sultan: Analyse: Die Wahlen in Kasachstan – Ostexperte.de.

[3] Botschaft der Republik Kasachstan in der Bundesrepublik Deutschland: Kasachstan 2021. 30 Jahre Unabhängigkeit. Daten – Fakten – Hintergründe. 18. Aufl., Berlin 2020, S. 76-79.

[4] Annual Review on the Protection of Human Rights in the Republic of Kazakhstan. Nur-Sultan 2020, insb. S. 9-20.

[5] Zum Aspekt der Multiethnizität für das Staatsverständnis Kasachstans vgl. Heß, Michael Reinhard (Hg.): Building the Eternal Country. Studies on multi-ethnic Kazakhstan. Gulandot, Minima Turcologica, 2, Berlin 2021.

[6] Vgl. Chebotarev, Andrey: Political Reforms in Kazakhstan: New course of the President Tokayev. Analytical Report, Kazakhstan Council on International Relations, Nur-Sultan 2021, S. 16-21. URL: Political_Reforms_in_Kazakhstan.pdf (kazcouncil.kz).

[7] Rede des Präsidenten Kassym-Shomart Tokajew bei der Eröffnung der ersten Sitzungsperiode des Parlaments Kasachstans der 7. Einberufung, Nur-Sultan 2021.

[8] Vgl. Botschaft der Republik Kasachstan, Kasachstan 2021, S.195-200.